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Aktuelle Rechtsprechung (Leitsätze) zum Internationalen Sorgerecht

I. Zum Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts

  • EuGH, Urteil v. 6. Juli 2023 – Rs. C – 462/22 – Leitsatz:

    Art. 3 Abs. 1 Buchst. a sechster Gedankenstrich der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass er die Zuständigkeit des Gerichts eines Mitgliedstaats für die Entscheidung über einen Antrag auf Auflösung der Ehe davon abhängig macht, dass der Antragsteller, der Staatsangehöriger dieses Mitgliedstaats ist, den Nachweis erbringt, dass er seit mindestens sechs Monaten unmittelbar vor Einreichung seines Antrags einen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat erlangt hat.

  • EuGH, Urteil v. 27. April 2023 – Rs. C - 372/22 – Leitsatz:

    Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass für den Beginn der Dauer von drei Monaten, während der die Gerichte des Mitgliedstaats des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes abweichend von Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 für die Entscheidung über einen Antrag auf Änderung einer endgültigen Entscheidung über das Umgangsrecht zuständig bleiben, auf den Tag nach dem tatsächlichen Umzug des Kindes in den Mitgliedstaat seines neuen gewöhnlichen Aufenthalts abzustellen ist.
    Die Verordnung Nr. 2201/2003 ist dahin auszulegen, dass das Gericht des Mitgliedstaats des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes, das nach Art. 9 dieser Verordnung für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, von der in Art. 15 dieser Verordnung vorgesehenen Verweisungsbefugnis zugunsten des Gerichts des Mitgliedstaats des neuen gewöhnlichen Aufenthalts dieses Kindes Gebrauch machen kann, sofern die in diesem Art. 15 geregelten Voraussetzungen erfüllt sind.

  • EuGH, Urteil vom 25. November 2021, C-289/20 – Leitsatz:
    Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass ein Ehegatte, der sein Leben in zwei Mitgliedstaaten verbringt, seinen gewöhnlichen Aufenthalt nur in einem dieser Mitgliedstaaten haben kann, so dass allein die Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sich dieser gewöhnliche Aufenthalt befindet, für die Entscheidung über den Antrag auf Auflösung der Ehe zuständig sind.
  • EuGH, Urteil vom 28. Juni 2018, C-512/17 – Leitsatz:
    Art. 8 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 (Brüssel IIa-Verordnung) ist dahin auszulegen, dass unter dem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes im Sinne dieser Verordnung der Ort seines tatsächlichen Lebensmittelpunkts zu verstehen ist. Es ist Sache des nationalen Gerichts, auf der Grundlage eines Bündels übereinstimmender Sachverhaltsgesichtspunkte zu bestimmen, wo sich dieser Lebensmittelpunkt zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags betreffend die elterliche Verantwortung für das Kind befand. Dabei sind in einer Rechtssache wie der des Ausgangsverfahrens im Hinblick auf den von diesem Gericht festgestellten Sachverhalt folgende Umstände gemeinsam ausschlaggebend:
    – der Umstand, dass das Kind ab seiner Geburt bis zur Trennung seiner Eltern im Allgemeinen mit ihnen an einem bestimmten Ort gewohnt hat;
    – der Umstand, dass sich der Elternteil, der seit der Trennung des Paares de facto für das Kind Sorge trägt, im Alltag noch immer mit ihm an diesem Ort aufhält und dort seine berufliche Tätigkeit im Rahmen eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses ausübt;
    – der Umstand, dass das Kind an diesem Ort regelmäßig Kontakt zu seinem anderen Elternteil hat, der noch immer an diesem Ort wohnt.
    Hingegen können in einer Rechtssache wie der des Ausgangsverfahrens folgende Umstände nicht als entscheidend angesehen werden:
    – vergangene Aufenthalte des de facto für das Kind Sorge tragenden Elternteils mit dem Kind im Hoheitsgebiet des Herkunftsmitgliedstaats dieses Elternteils im Rahmen seiner Urlaube oder von Festtagen;
    – die Herkunft des fraglichen Elternteils, die sich daraus ableitenden kulturellen Bindungen des Kindes zu diesem Mitgliedstaat und seine Beziehungen zu seiner in diesem Mitgliedstaat ansässigen Familie;
    – die etwaige Absicht dieses Elternteils, sich künftig in eben diesem Mitgliedstaat mit dem Kind niederzulassen.
  • EuGH, Urteil vom 8. Juni 2017 – C-111/17 PPU - Leitsatz

    Art. 11 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der ein Kind im Einklang mit dem gemeinsamen Willen seiner Eltern in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Eltern vor seiner Geburt ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten, geboren wurde und sich dort mehrere Monate lang ununterbrochen mit seiner Mutter aufgehalten hat, die ursprüngliche Intention der Eltern, dass die Mutter mit dem Kind in den früheren Aufenthaltsstaat der Eltern zurückkehren sollte, nicht den Schluss zulässt, dass das Kind dort seinen "gewöhnlichen Aufenthalt" im Sinne der Verordnung hat. Infolgedessen kann in einer solchen Situation die Weigerung der Mutter, mit dem Kind in diesen Mitgliedstaat zurückzukehren, nicht als "widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten" des Kindes im Sinne von Art. 11 Abs. 1 der Verordnung angesehen werden.

  • EuGH, Urteil vom 9. Oktober 2014 – C-376/14 PPU – Leitsatz (Auszug):
    Art. 2 Nr. 11 und Art. 11 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 sind dahin auszulegen, dass in dem Fall, dass die Verbringung des Kindes im Einklang mit einer vorläufig vollstreckbaren gerichtlichen Entscheidung erfolgt ist, die später durch eine gerichtliche Entscheidung aufgehoben wurde, mit der der Aufenthalt des Kindes bei dem im Ursprungsmitgliedstaat wohnenden Elternteil bestimmt wurde, das mit einem Antrag auf Rückgabe des Kindes befasste Gericht des Mitgliedstaats, in den das Kind verbracht wurde, im Zuge einer Beurteilung aller besonderen Umstände des Einzelfalls zu prüfen hat, ob das Kind unmittelbar vor dem behaupteten widerrechtlichen Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt noch im Ursprungsmitgliedstaat hatte. Im Rahmen dieser Beurteilung ist zu berücksichtigen, dass die die Verbringung gestattende Gerichtsentscheidung vorläufig vollstreckbar und mit einem Rechtsmittel angefochten war.
  • EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2010 – C-497/10 PPU – Leitsatz (Auszug):
    Der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ ist für die Zwecke der Artikel 8 und 10 der Verordnung Nr. 2201/2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 1347/2000 dahin auszulegen, dass darunter der Ort zu verstehen ist, an dem eine gewisse Integration des Kindes in ein soziales und familiäres Umfeld zu erkennen ist. Dabei sind, wenn es sich um einen Säugling handelt, der in einen anderen Mitgliedstaat als den seines gewöhnlichen Aufenthalts verbracht wurde und der sich dort mit seiner Mutter erst seit einigen Tagen befindet, u. a. zum einen die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Mutter in diesen Staat zu berücksichtigen und zum anderen, insbesondere wegen des Alters des Kindes, die geografische und familiäre Herkunft der Mutter sowie die familiären und sozialen Bindungen der Mutter und des Kindes in dem betreffenden Mitgliedstaat. Es ist Sache des nationalen Gerichts, den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls festzustellen. Falls die Anwendung der oben genannten Kriterien zu dem Ergebnis führen sollte, dass der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes nicht festgestellt werden kann, muss das zuständige Gericht anhand des Kriteriums der „Anwesenheit des Kindes“ im Sinne von Artikel 13 der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt werden.
  • OLG Düsseldorf, Beschluss vom 18. September 2017 - II-1 UF 105/17

    1. Der Wille der Sorgerechtsinhaber ist für die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts eines Kleinkindes insofern beachtlich, als der gemeinsame Wille der Sorgerechtsinhaber objektiv erkennbar wird. Ein geheimer Vorbehalt der Rückkehr in den Heimatstaat eines Elternteils ist unbeachtlich.
    2. Dem Willen zur Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts im Ausland steht nicht entgegen, wenn ein Elternteil während des Auslandsaufenthalts weiterhin in Deutschland Leistungen des Jobcenters bezogen hat, dort durchgehend beim Einwohnermeldeamt gemeldet war und dort auch das Kind nach seiner Geburt melderechtlich erfasst worden ist.
    3. Ein rein passives Verhalten bedeutet keine Genehmigung im Sinne von Art. 13 Abs. 1 lit. a) HKÜ. Stets muss sie klar, eindeutig und unbedingt sein. Eine stillschweigende Genehmigung liegt daher nicht schon dann vor, wenn der beraubte Elternteil untätig bleibt; allein hieraus darf der Entführer nicht schließen, der beraubte Elternteil billige den jetzigen Verbleib des Kindes.

  • OLG Karlsruhe, Beschluss vom 5. Juni 2015 – 18 UF 265/14 – Leitsatz:

    • Der gewöhnliche Aufenthalt eines Kindes ist nicht von dem seiner Eltern abgeleitet sondern eigenständig zu bestimmen.
    • Bei einem 2 ½ Jahre alten Kind ist regelmäßig nach etwa sechs Monaten von einem gewöhnlichen Aufenthalt am neuen Wohnort auszugehen. Dies kann auch bei einem Auslandsstudium des betreuenden Elternteils der Fall sein, wenn Anzeichen für einen längerdauernden und nicht nur vorübergehenden Aufenthalt nach außen erkennbar zutage treten.
  • OLG Hamm, Beschluss vom 26. März 2015 – 11 UF 23/15:

    • Bei der Prüfung der Gründe für den Aufenthalt des Kindes im Mitgliedstaat, in den es verbracht wurde, und der Absicht des Elternteils, der es dorthin mitgenommen hat, ist auch zu berücksichtigen, wie sicher der Elternteil zum Zeitpunkt der Verbringung sein konnte, dass der Aufenthalt des Kindes in diesem Mitgliedstaat nicht nur vorübergehend sein würde.
    • Die tatsächlichen Umstände, dass das Kind sich im Zeitpunkt des Beginns des widerrechtlichen Zurückhaltens bereits seit eineinhalb Jahren in Deutschland aufhielt, hier in den Kindergarten und in die Schule ging, schon gut deutsch sprach, Freundschaften mit Gleichaltrigen geschlossen hatte und gut in die Familien ihrer Mutter und des Stiefvaters eingebunden war, rechtfertigen es nicht, einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes in Deutschland anzunehmen, wenn ein abweichender Vergleich besteht, in dem sich die Eltern darauf einigen, dass das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt weiterhin in Frankreich hat.
  • KG Berlin, Beschluss vom 24. Mai 2017 - Leitsatz
    Es steht der tatbestandlichen Verwirklichung des Art. 3 des Haager Kindesentführungsübereinkommens (HKÜ) nicht entgegen, dass das widerrechtliche Zurückhalten eines Kindes in einem Staat (hier: Senegal) begonnen hat, der nicht an das HKÜ gebunden ist. Das widerrechtliche Zurückhalten dauerte fort, bis die Kinder im Anschluss - ohne Wissen und Einverständnis des anderen Elternteils - in einem HKÜ-Vertragsstaat (Deutschland) gebracht wurden.

II. Zu den Ablehnungsgründen nach dem HKÜ

  • EGMR, Urteil v. 1. September 2022 – 21347/21:

    Es liegt eine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Familienlebens) vor, wenn die Gerichte die Rückführung des Kindes ohne ausreichende Urteilsbegründung und ohne hinreichende Bezugnahme auf das Vorbringen des Antragstellers versagen.
    Die kroatischen Gerichte wiesen den Rückführungsantrag des Vaters – trotz des Hinweises auf Art. 16 Abs. 3 KSÜ – in allen Instanzen bis zum kroatischen Verfassungsgericht zurück, ohne in der Urteilsbegründung auf das Vorbringen des Vaters einzugehen.

  • OLG Dresden, Beschluss v. 17. Januar 2023, 21 UF 752/22:

    Der Anordnung einer Rückführung steht nicht entgegen, dass der die Rückführung beantragende Elternteil nicht im Herkunftsland des Kindes lebt. Ebenso steht der Anordnung einer Rückführung nicht entgegen, dass der entführende Elternteil im Aufenthaltsstaat ein Kind von einem neuen Lebenspartner erwartet. Der entführende Elternteil muss es auf sich nehmen, gegebenenfalls selbst Nachteile, wie beispielsweise Beeinträchtigungen des Familienlebens unter Einbeziehung des neuen Lebenspartners, zu erleiden. Anderenfalls würde dem entführenden Elternteil die Möglichkeit zuteil, durch sein eigenes Verhalten die Anwendung des Ausnahmetatbestands gem. Art. 13 Abs. 1 lit. b) HKÜ zu erzwingen.

  • OLG Köln, Beschluss v. 17. Juli 2023, 21 UF 100/23:

    Da die Verpflichtung zur Rückführung eines Kindes nach dem HKÜ nicht einen bestimmten Ort, sondern das gesamte Staatsgebiet betrifft, kann die Rückführung eines Kindes nur dann nach Art. 13 HKÜ abgelehnt werden, wenn die kriegsbedingten Beeinträchtigungen das gesamte Staatsgebiet betreffen. Dies ist jedoch bei der Ukraine nicht der Fall, da sich die Kampfhandlungen auf den Süden und Osten konzentrieren.

  • OLG Stuttgart, Beschluss vom 13. Oktober 2022, 17 UF 186/22 – Leitsatz:
    Der Rückführung eines von einem Elternteil nach Deutschland entführten minderjährigen Kindes in die Ukraine nach den Bestimmungen des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25. Oktober 1980 (HKÜ) steht wegen der Kampfhandlungen in der Ukraine derzeit die Vorschrift des Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ entgegen. Eine schwerwiegende Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für ein Kind i.S.d. Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ besteht derzeit auf dem gesamten Staatsgebiet der Ukraine.
  • OLG Rostock, Beschluss vom 14. Oktober 2021, 10 UF 88/21 – Leitsatz:
    Einer Rückführung eines Kindes gemäß Art. 12 Abs. 1 HKÜ in einen anderen Vertragsstaat, als den Staat des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes stehen im Regelfall die Schutzzwecke des HKÜ entgegen, so dass eine solche nur in Ausnahmefällen in Betracht kommt.
  • EGMR Y. S. und O. S. gg. Russland, Urteil vom 15.06.2021, Kammer III, Bsw. Nr. 17.665/17 – Leitsatz (Auszug):
    Es ist festzustellen, dass die russischen Gerichte den Einwand der Antragstellenden hinsichtlich des Vorliegens einer schwerwiegenden Gefahr gem. Art. 13 Abs. 1 lit. b) HKÜ nicht hinreichend tiefgründig im Lichte des Art. 8 EMRK berücksichtigt haben. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass die Gerichte in ausreichendem Maße auf öffentliche Quellen Bezug genommen und überdies eigenständig ermittelt haben. Aus diesen Gründen liegt nach Ansicht des Gerichts eine Verletzung des Rechts des Kindes auf Achtung des Familienlebens aus Art. 8 EMRK vor.
  • OLG Düsseldorf, Beschluss vom 28.12.2020, 1 UF 172/20 – Leitsatz:
    Die Corona-Infektionslage in Frankreich begründet keine die Ablehnung der Rückführung des Kindes rechtfertigende schwerwiegende Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind gem. Art. 13 1 lit. b) HKÜ.
  • EGMR, Urteil vom 21. Mai 2019 – 49450/17 (O.C.I. and others v. Romania):

    Das Gericht hat sich bei nachgewiesener körperlicher Gewalt gegenüber dem Kind konkret damit auseinanderzusetzen, dass im Ursprungsstaat im Fall der Rückführung tatsächlich besondere Vorkehrungen getroffen würden, um das Kind nach der Rückführung zu schützen. Die bloß abstrakte Möglichkeit von Schutzanordnungen ist angesichts einer konkreten und erwiesenen Ausübung von Gewalt nicht ausreichend.
    Mit dem Urteil führt der EGMR seine Rechtsprechung aus der Entscheidung X ./. Lettland fort.

  • OLG Frankfurt a. Main, Beschluss vom 11. Oktober 2017, 1 UF 179/17:

    1. Auch nach Erlass einer rechtskräftigen Rückführungsentscheidung sind im Vollstreckungsverfahren neue Umstände zu berücksichtigen, die Anlass zu der Annahme geben können, dass die angeordneten Zwangsvollstreckungsmaßnahmen in erheblicher Weise evident kindeswohlwidrig sind.
    2. Die Einstellung der Vollstreckung unterliegt engen Voraussetzungen, denn die Gründe, die im HKÜ-Verfahren Anlass geben, die bereits angeordnete Vollstreckung ausnahmsweise einzustellen, sind vor dem Hintergrund der Vermutung des HKÜ zu gewichten, dass eine sofortige Rückführung des Kindes zur Wahrung der Kontinuität des bisherigen Lebensumfeldes dem Kindeswohl grundsätzlich am besten entspricht.

  • BVerfG, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 18. Juli 2016 – 1 BvQ 27/16 – Orientierungssatz (Auszug):

    • Wird in Rückführungsfällen nach dem HKÜ eine einstweilige Anordnung gem. § 32 Absatz 1 BVerfGG beantragt und ist der Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens offen, so kann der Zweck des Übereinkommens im Rahmen der Folgenabwägung nicht unberücksichtigt bleiben. Das Übereinkommen dient dem Kindeswohl, indem das widerrechtlich ins Ausland gebrachte Kind möglichst schnell rückgeführt und die Sorgerechtsentscheidung am Ort des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes sichergestellt wird (vgl. BVerfG, 15.08.1996, 2 BvR 1075/96 (Rn 10)).
    • Daher sieht das BVerfG in Rückführungsfällen in der Regel von dem Erlass einer einstweiligen Anordnung ab, um diesen Zweck des HKÜ nicht zu beeinträchtigen (vgl BVerfG, 16.07.1998, 2 BvR 1206/98 (Rn 2)).
    • Gegenüber den Zielen des HKÜ können sich nur ungewöhnlich schwerwiegende Beeinträchtigungen des Kindeswohls im Einzelfall durchsetzen, die über die mit einer Rücküberstellung gewöhnlich verbundenen Schwierigkeiten hinausgehen. Dem trägt Artikel 13 Absatz 1 Buchstabe b) HKÜ Rechnung.
  • OLG Rostock, Beschluss vom 11. Juli 2016 – 10 UF 78/16:

    • Der Tatbestand von Art. 13 Abs. 1 Buchstabe b) HKÜ ist so ausgestaltet, dass den entführenden Elternteil die Verpflichtung trifft, das in diesem Gesetz vorgesehene Rückführungshindernis nachzuweisen. Ihn trifft eine echte subjektive Beweisführungslast, so dass der Amtsermittlungsgrundsatz nicht gilt.
    • Beachtlich sind nur ungewöhnlich schwerwiegende Beeinträchtigungen des Kindes, die über die mit einer Rückführung gewöhnlich verbundenen Schwierigkeiten hinausgehen; demnach ist eine enge Auslegung von Art. 13 HKÜ geboten.
  • OLG Stuttgart, Beschluss vom 18. März 2015 – 17 UF 44/15 – Leitsatz (Auszug):

    Die Entscheidung eines Gerichts des Herkunftsstaates eines im Sinne von Artikel 3 HKÜ widerrechtlich nach Deutschland verbrachten Kindes, die dessen Hauptwohnsitz vorläufig bei dem entführenden Elternteil im Zufluchtsstaat anordnet, steht einer Rückgabeanordnung (Artikel 12 Absatz 1 HKÜ) entgegen, da eine solche das Kind in eine unzumutbare Lage im Sinne von Artikel 13 Absatz 1 Buchstabe b) HKÜ bringen würde. Die Entscheidung des Gerichts in dem Herkunftsstaat muss wirksam im Sinne von Artikel 17 HKÜ sein; auf ihre Vollstreckbarkeit kommt es nicht an.

  • OLG Hamm, Beschluss vom 4. Juni 2013 – 11 UF 95/13 – Leitsatz (Auszug):
    • Die Zustimmung zur Verbringung gem. Artikel 13 Absatz 1 Buchstabe a) HKÜ kann widerrufen werden.
    • Darlegungs- und beweisbelastet für den Widerruf ist derjenige, für den diese Tatsache günstig ist.

III. Anerkennung und Vollstreckung

  • EuGH, Urteil v. 16. Februar 2023 – Rs. C - 638/22 – Leitsatz:

    Art. 11 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, nach denen Stellen, die nicht den Status eines Gerichts haben, die Aussetzung der Vollstreckung einer auf der Grundlage des am 25. Oktober 1980 in Den Haag geschlossenen Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung ergangenen Rückgabeentscheidung von Rechts wegen für eine Dauer von mindestens zwei Monaten erwirken können, ohne ihren Antrag auf Aussetzung begründen zu müssen.

  • EuGH, Urteil vom 15. November 2022, C- 646/20 - Leitsatz:
    Art. 2 Nr. 4 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist namentlich für die Zwecke der Anwendung von Art. 21 Abs. 1 dieser Verordnung dahin auszulegen, dass eine von einem Standesbeamten des Ursprungsmitgliedstaats errichtete Scheidungsurkunde, die eine Vereinbarung der Ehegatten über die Ehescheidung enthält, die sie vor dem Standesbeamten getreu den in den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen bestätigt haben, eine „Entscheidung“ im Sinne von Art. 2 Nr. 4 darstellt.
  • BVerfG, Beschluss vom 1. August 2022, 1 BvQ 50/22– Orientierungssatz (Auszug):
    1a. Im Verfahren der Vollstreckung eines ausländischen Titels zur Herausgabe eines Kindes gem. Art 42 Brüssel IIa-VO findet zwar regelmäßig keine inhaltliche Prüfung des Herausgabeanspruchs statt, so dass grds auch die Grundrechtspositionen des betroffenen Kindes (Art 2 Abs 1 GG iVm Art 1 Abs 1 GG; Art 24 EUGrdRCh) bzw seiner Eltern (Art 6 Abs 2 S 1 GG) nicht berücksichtigt werden können.
    1b. Allerdings erscheint es nicht ausgeschlossen, dass das deutsche Vollstreckungsgericht prüfen kann, ob überhaupt ein Fall des Art 42 Brüssel IIa-VO vorliegt oder ob das ausländische Gericht bereits keine Bescheinigung nach dieser Vorschrift ausstellen konnte, etwa weil – wie hier – die Voraussetzungen einer Rückgabe des Kindes gem Art 11 Abs 8 Brüssel IIa-VO nicht vorlagen.
  • KG Berlin, Beschluss vom 30. März 2020 – 1 W 236/19 – Leitsatz:
    Eine in Italien erfolgte einvernehmliche Ehescheidung vor dem Standesbeamten unterfällt dem Anwendungsbereich der Brüssel II a-VO. Die Fortführung eines Eheregistereintrags erfordert deshalb keine vorherige Anerkennung der Scheidung durch die Landesjustizverwaltung. Ausreichend ist eine Bescheinigung nach Art. 39 Brüssel II a-VO.
  • BGH, Beschluss vom 27. November 2019 - XII ZB 311/19 – Leitsatz:
    1. Die Vorschrift des § 99 Abs. 1 FamFG regelt die internationale Zuständigkeit auch für die Vollstreckung von Entscheidungen über das Umgangsrecht, wenn sich nicht aus Regelungen in völkerrechtlichen Vereinbarungen, soweit sie unmittelbar anwendbares innerstaatliches Recht geworden sind, oder Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft anderes ergibt (im Anschluss an Senats­beschluss vom 30. September 2015 - XII ZB 635/14, FamRZ 2015, 2147).
    2. Der Brüssel II a-Verordnung lassen sich vorrangige Bestimmungen über die internationale Zuständigkeit für die Vollstreckung eines deutschen Umgangstitels nicht entnehmen.
    3. Eine internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte für die Festsetzung eines Ordnungsgelds zur Durchsetzung eines deutschen Umgangstitels ist daher auch dann gegeben, wenn das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort in einem anderen Mitgliedstaat hat.
  • EuGH, Urteil vom 19. September 2018, C-325/18 PPU und C-375/18 PPU – Leitsatz (Auszug, gekürzt):
    1. Werden Kinder widerrechtlich vom Mitgliedstaat ihres gewöhnlichen Aufenthalts (Ursprungsmitgliedstaat) in einen anderen Mitgliedstaat (Aufnahmemitgliedstaat) verbracht, kann die Entscheidung eines Gerichts des Ursprungsmitgliedstaates, mit der die Rückgabe der Kinder angeordnet wird, im Aufnahmemitgliedstaat nach Kapitel III der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 (Brüssel IIa-Verordnung) für vollstreckbar erklärt werden. Dies gilt auch dann, wenn ein Rückführungsantrag nach dem HKÜ nicht gestellt worden ist.
    2. Art. 33 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 ist im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens die Vollstreckung einer Entscheidung aus dem Ursprungsmitgliedstaat, mit der die Vormundschaft für Kinder sowie die Rückgabe dieser Kinder angeordnet wird und die im ersuchten Mitgliedstaat für vollstreckbar erklärt wurde, erst zulässig ist, wenn die Zustellung der Vollstreckbarerklärung dieser Entscheidung an die betroffenen Eltern vorgenommen wurde.
  • EuGH, Urteil vom 19. November 2015 – C-455/15 PPU – Leitsatz (Auszug):
    Artikel 23 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass diese Bestimmung es einem Gericht eines Mitgliedstaats, das seine Zuständigkeit für die Entscheidung über das Sorgerecht für ein Kind bejaht, nicht gestattet, der von einem Gericht eines anderen Mitgliedstaats getroffenen Entscheidung über das Sorgerecht für dieses Kind die Anerkennung zu versagen, sofern unter Berücksichtigung des Wohls des Kindes keine offensichtliche Verletzung einer in der Rechtsordnung eines Mitgliedstaats als wesentlich geltenden Rechtsnorm oder eines dort als grundlegend anerkannten Rechts vorliegt.
  • BGH, Beschluss vom 10. Februar 2016 – XII ZB 38/15 – Leitsatz (Auszug):

    • Enthält die eine einstweilige Maßnahme anordnende Entscheidung keine eindeutige Begründung für die Zuständigkeit des Ursprungsgerichts in der Hauptsache unter Bezugnahme auf eine der in den Art. 8 bis 14 Brüssel II a-Verordnung genannten Zuständigkeiten, und ergibt sich die Hauptsachezuständigkeit auch nicht offensichtlich aus der erlassenen Entscheidung, ist davon auszugehen, dass die Entscheidung nicht nach den Zuständigkeitsvorschriften der Brüssel II a-Verordnung ergangen ist. In diesem Fall ist zu prüfen, ob die Entscheidung unter die Öffnungsklausel des Artikel 20 Brüssel II a-Verordnung fällt (im Anschluss an Senatsbeschluss BGH, 9. Februar 2011, XII ZB 182/08, BGHZ 188, 270 = FamRZ 2011, 542).
    • Sind auch die Voraussetzungen des Artikel 20 Brüssel II a-Verordnung nicht gegeben, kommt eine Anerkennung und Vollstreckung der von einem nach der Brüssel II a-Verordnung unzuständigen Gericht erlassenen einstweiligen Maßnahme nicht in Betracht (im Anschluss an Senatsbeschluss BGH, 9. Februar 2011, XII ZB 182/08, BGHZ 188, 270 = FamRZ 2011, 542).
    • Dringlichkeit i.S.d. Artikel 20 Absatz 1 Brüssel II a-Verordnung bezieht sich sowohl auf die Lage, in der sich das Kind befindet, als auch auf die praktische Unmöglichkeit, den die elterliche Verantwortung betreffenden Antrag vor dem Gericht zu stellen, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist (im Anschluss an EuGH, 23. Dezember 2009, C-403/09 PPU, FamRZ 2010, 525).
    • Einstweilige Maßnahmen i.S.v. Art. 20 Abs. 1 Brüssel II a-Verordnung können nur in Bezug auf Personen erlassen werden, die sich in dem Mitgliedstaat befinden, in dem das für den Erlass dieser Maßnahmen zuständige Gericht seinen Sitz hat. Das gilt in Verfahren über die elterliche Verantwortung nicht nur für das Kind selbst, sondern auch für den Elternteil, dem durch den Erlass der Maßnahme das Sorgerecht genommen wird (im Anschluss an EuGH, 23. Dezember 2009, C-403/09 PPU, FamRZ 2010, 525).
  • BGH, Beschluss vom 8. April 2015 – XII ZB 148/14 – Leitsatz (Auszug):

    • Im Verfahren auf Anerkennung bzw. Vollstreckbarerklärung einer Entscheidung nach der Brüssel II a-Verordnung ist kein Verfahrensbeistand zu bestellen.
    • Handelt es sich bei der anzuerkennenden Entscheidung um eine einstweilige Anordnung zum Sorgerecht, steht der Umstand, dass das Ausgangsgericht dem Kind keinen Verfahrensbeistand bestellt hat, einer Anerkennung bzw. Vollstreckbarerklärung grundsätzlich nicht entgegen.

IV. Zu verfahrensrechtlichen Fragen

  • EuGH, Urteil v. 13. Juli 2023 – Rs. C – 87/22 – Leitsätze:

    Art. 15 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass das Gericht eines Mitgliedstaats, das nach Art. 10 dieser Verordnung in der Hauptsache für die Entscheidung einer Frage der elterlichen Verantwortung zuständig ist, in Ausnahmefällen die in Art. 15 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung vorgesehene Verweisung an ein Gericht des Mitgliedstaats beantragen kann, in den das Kind von einem Elternteilwiderrechtlich verbracht wurde.

    Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 ist dahin auszulegen, dass die Möglichkeit des in Fragen der elterlichen Verantwortung für die Entscheidung in der Hauptsache zuständigen Gerichts eines Mitgliedstaats, die Verweisung dieses Falls an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats zu beantragen, ausschließlich den in dieser Bestimmung ausdrücklich genannten Voraussetzungen unterliegt. Bei der Prüfung derjenigen dieser Voraussetzungen, die den Umstand, dass es in dem anderen Mitgliedstaat ein Gericht gibt, das den Fall besser beurteilen kann, und das Wohl des Kindes betreffen, muss das Gericht des ersten Mitgliedstaats berücksichtigen, ob gemäß Art. 8 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 3 Buchst. f des am 25. Oktober 1980 in Den Haag geschlossenen Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung ein Verfahren zur Rückgabe dieses Kindes anhängig ist, das in dem Mitgliedstaat, in den das Kind von einem Elternteil widerrechtlich verbracht wurde, noch nicht rechtskräftig entschieden wurde.

  • EuGH, Urteil vom 14. Juli 2022, Rs. C-572/21 – Leitsatz:
    Art. 8 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 in Verbindung mit Art. 61 Buchst. a dieser Verordnung ist dahin auszulegen, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats, bei dem ein die elterliche Verantwortung betreffender Rechtsstreit anhängig ist, die nach Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung bestehende Zuständigkeit für die Entscheidung über diesen Rechtsstreit nicht behält, wenn der gewöhnliche Aufenthalt des betreffenden Kindes im Lauf des Verfahrens rechtmäßig in das Hoheitsgebiet eines Drittstaats verlegt worden ist, der Vertragspartei des am 19. Oktober 1996 in Den Haag abgeschlossenen Übereinkommens über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern ist.
  • EGMR, Urteil vom 17. März 2022, 80606/17 (Moga v. Poland) – Orientierungssatz:
    1. Das Beschleunigungsgebot nach Art. 11 Abs. 1 HKiEntÜ wird verletzt, wenn zwischen dem Eingang des Antrags auf Rückführung des Kindes und der endgültigen Entscheidung ein Zeitraum von 8 Monaten verstrichen ist.
    2. Die innerstaatlichen Gerichte müssen sich aufgrund der Besonderheit des Verfahrens nach dem HKiEntÜ auf die Vermutung stützen, dass eine sofortige Rückführung des Kindes an seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort dem Wohl des Kindes dient, da die Gefahr besteht, dass der Zeitablauf die Position eines nicht ansässigen Elternteils unwiederbringlich beeinträchtigt.
    3. Der Gerichtshof kann feststellen, ob die innerstaatlichen Gerichte bei der Anwendung und Auslegung der Bestimmungen des HKiEntÜ die in Art. 8 EMRK vorgesehenen Garantien sichergestellt haben, wobei insbesondere das Wohl des Kindes zu berücksichtigen ist. Hingegen ist es nicht Aufgabe des Gerichtshofs, anstelle der Behörden festzustellen, wo sich der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes befand oder ob eine schwerwiegende Gefahr für das Kind bei einer Rückkehr besteht.
  • EuGH, Urteil vom 02.08.2021, Rs. C-262/21 PPU – A./. B – Leitsatz:
    Art. 2 Nr. 11 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 ist dahin auszulegen, dass kein widerrechtliches Verbringen oder widerrechtliches Zurückhalten im Sinne dieser Bestimmung vorliegen kann, wenn sich ein Elternteil ohne Zustimmung des anderen Elternteils in Befolgung einer von einem Mitgliedstaat auf der Grundlage der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juli 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, getroffenen Überstellungsentscheidung dazu veranlasst sieht, sein Kind aus diesem Staat, in dem sich der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes befand, in einen anderen Mitgliedstaat zu bringen und im letztgenannten Mitgliedstaat zu bleiben, nachdem die Überstellungsentscheidung für nichtig erklärt wurde, ohne dass die Behörden des erstgenannten Mitgliedstaats beschlossen hätten, die überstellten Personen wieder aufzunehmen oder ihnen den Aufenthalt zu gestatten.
  • EuGH, Urteil vom 24.03.2021, Az. C-603/20 PPU – Leitsatz:
    Art.10 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 in der durch die Verordnung (EG) Nr. 2116/2004 des Rates vom 2. Dezember 2004 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er im Fall der Feststellung, dass ein Kind zum Zeitpunkt der Stellung eines die elterliche Verantwortung betreffenden Antrags infolge einer Entführung in einen Drittstaat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Staat erlangt hat, nicht anwendbar ist. In einem solchen Fall ist die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts gemäß den anwendbaren internationalen Übereinkommen oder, in Ermangelung eines solchen internationalen Übereinkommens, gemäß Art. 14 dieser Verordnung zu ermitteln.
  • EGMR, Urteil vom 14. Januar 2020 – 10926/09 (Rinau v. Litauen) – Leitsatz:

    1. Das in Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens wird verletzt, wenn ein Staat es unterlässt, ein faires Verfahren in einer Familiensache sicherzustellen. Ein faires Verfahren liegt dann nicht vor, wenn in einem Rückführungsver­fahren nach dem HKiEntÜ und der Brüssel II a-VO Vertreter der Politik Druck auf die Gerichte und die Mitarbeiter des Jugendamts ausgeübt haben.
    2. Liegt eine finale Entscheidung vor, die eine Rückführung eines Kindes anordnet, ist es die Pflicht des Gerichts, jede weitere Ver­zögerung zu verhindern. Insbesondere ist ein Wiederaufnahmeverfahren unzulässig, wenn es nur auf Tatsachen beruht, die sich aus dem Zeitablauf ergeben.

  • BVerfG, Beschluss vom 31. Dezember 2019, 1 BvR 2852/19 – Leitsatz:

    1. Soweit die Mutter der Kinder, die gemäß den angegriffenen Entscheidungen nach Argentinien zurückgeführt werden sollen, in deren Namen Verfassungsbeschwerde erhebt, ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass sie allein zu deren Vertretung befugt ist. Nach dem maßgeblichen argentinischen Zivilrecht tragen beide Elternteile die gemeinsame Elternverantwortung für ihre Kinder. Eine dennoch bestehende alleinige Befugnis eines jeden Elternteils zur gerichtlichen Vertretung der beiden Töchter wird nicht aufgezeigt.
    2. weist die Beschwerdebegründung diverse Substantiierungsmängel auf (§§ 23 Abs 1 S 2, 92 BVerfGG). Soweit die Mutter der Kinder auch eigene Rechte geltend machten möchte, sind diese nicht benannt (zum entsprechenden Begründungserfordernis vgl. etwa BVerfG, 07.12.2011, 2 BvR 2500/09, BVerfGE 130, 1 <21>). Überdies sind der Verfassungsbeschwerde nicht alle für eine verfassungsrechtliche Beurteilung erforderlichen Unterlagen beigefügt. Schließlich fehlt die gebotene inhaltliche Auseinander­setzung mit den angegriffenen Entscheidungen.

  • EuGH, Urteil vom 16. Januar 2019 – C-386/17Leitsatz:
    Die Regeln über die Rechtshängigkeit in Art. 27 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen und Art. 19 der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 sind dahin auszulegen, dass, wenn im Rahmen eines Rechtsstreits in Ehesachen, über die elterliche Verantwortung oder in Unterhaltssachen das später angerufene Gericht unter Verstoß gegen diese Regeln eine rechtskräftig gewordene Entscheidung erlässt, es den Gerichten des Mitgliedstaats, zu dem das zuerst angerufene Gericht gehört, untersagt ist, die Anerkennung dieser Entscheidung allein aus diesem Grund abzulehnen. Insbesondere kann es dieser Verstoß für sich allein nicht rechtfertigen, dass die Entscheidung wegen offensichtlicher Unvereinbarkeit mit der öffentlichen Ordnung dieses Mitgliedstaats nicht anerkannt wird.
  • EGMR, Urteil vom 21. November 2017, 60399/15 (Mansour v. Slovakia):
    Die Vollstreckung von Rückführungsentscheidungen nach dem HKÜ muss effektiv und mit Beschleunigung betrieben werden. Unsachgemäße Verzögerungen (hier u.a. unter Rückgriff auf außerordentliche Rechtsbehelfe) verletzen den Antragsteller in seinen Rechten aus Artikel 8 EMRK.
  • EuGH, Urteil vom 27. Oktober 2016 – C-428/15 – Leitsatz (Auszug):
    Art. 15 Abs. 1 Brüssel II a-Verordnung ist dahin auszulegen, dass das zuständige Gericht eines Mitgliedstaats bei der Anwendung dieser Bestimmung in einem gegebenen Fall, der die elterliche Verantwortung betrifft, weder die Auswirkungen einer möglichen Verweisung der Sache an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats auf das Recht der anderen Beteiligten als des Kindes selbst auf Freizügigkeit noch den Grund berücksichtigen darf, aus dem die Mutter des Kindes vor der Befassung dieses Gerichts von diesem Recht Gebrauch gemacht hat, es sei denn, solche Gesichtspunkte sind geeignet, sich nachteilig auf die Lage des Kindes auszuwirken.
  • OLG Köln, Beschluss vom 24. April 2017 - II-21 UF 37/17

    1. Die Voraussetzungen des Übereinkommens sind offenkundig nicht erfüllt im Sinne des Art. 27 HKÜ, wenn ein (Mit-)Sorgerecht des Antragstellers nicht bestand und damit weder ein widerrechtliches Verbringen noch ein widerrechtliches Zurückhalten im Sinne des Art. 3 HKÜ vorliegt.
    2. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Widerrechtlichkeit ist der Zeitpunkt der behaupteten Entführung. Dies gilt auch für den Fall, dass zu einem späteren Zeitpunkt das Sorgerecht auf den anderen Elternteil übertragen wird. Das widerrechtliche Zurückhalten eines Kindes ist kein Dauerzustand, sondern eine einmalige rechtswidrige Beeinträchtigung des Sorgerechts eines Elternteils.

  • OLG Bamberg, Beschluss vom 18. November 2015 – 2 UF 228/15 Leitsatz:

    • Die Beschwerde in HKÜ-Verfahren ist nicht nur innerhalb von zwei Wochen einzulegen, sondern innerhalb der Frist auch zu begründen.
    • Die Anordnung in § 40 Abs. 2 Satz 1 2. Halbsatz IntFamRVG, dass § 65 Abs. 2 FamFG nicht anzuwenden ist, führt zu keinem anderen Ergebnis (entgegen OLG Stuttgart, Beschluss vom 31. Juli 2015, 17 UF 127/15, NZFam 2015, 1032).
  • OLG Saarbrücken, Beschluss vom 26. August 2015 – 9 UF 59/15 – Leitsatz:

    • Gemäß Art. 61 lit. a) Brüssel II a-Verordnung besteht ein Vorrang der Brüssel II a-Verordnung gegenüber dem Haager Übereinkommen vom 19. Oktober 1996 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern (KSÜ) nur dann, wenn das betreffende Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat. Dabei kommt es auf den Aufenthalt im Zeitpunkt der Sachentscheidung an, so dass nach einem Aufenthaltswechsel aus einem Mitgliedstaat der Brüssel II a-Verordnung in einen Nichtmitgliedstaat, der aber Mitglied im KSÜ ist, eine perpetuatio fori nicht in Betracht kommt. Nur dann wird der Vorrang der nunmehr gemäß Art. 5 KSÜ bestehenden internationalen Zuständigkeit gewahrt.
    • Trotz der notwendig engen Verbindung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes mit dem seiner Eltern ist der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes nicht von dem seiner Eltern abgeleitet, sondern eigenständig zu bestimmen, auch wenn Kinder in der Regel den gewöhnlichen Aufenthalt eines Elternteils teilen werden. Insoweit kommt es maßgebend darauf an, ob das Kind an dem neuen Aufenthaltsort sozial integriert ist, wovon in der Regel erst nach einer sechsmonatigen Aufenthaltsdauer ausgegangen werden kann.

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